»... aber davon erzählen wir in der nächsten Geschichte!«
[Erzähler in »Heidi (1)«]


Episode (1) Prolog

Mit Beginn der 1970'er Jahre wurde das Kinderprogramm in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ARD, ZDF und den Dritten Programmen nach und nach salonfähig. Während die deutschen Produktionen wie »Rappelkiste«, »Die Sendung mit der Maus« und »Das feuerrote Spielmobil« einen stark erzieherischen Auftrag nicht leugnen konnten, flimmerten ab Mitte der 1970'er Jahre japanische Animes - auch, wenn dieses Wort damals in Deutschland noch nicht verwendet wurde - über die Mattscheibe, deren Ziel allein die Unterhaltung der jungen Zuschauer war. Die oft 52-teiligen Serien, die man aus Fernost übernahm, hatten jedoch nicht unbedingt japanische Themen zum Inhalt, sondern widmeten sich Märchen und Erzählungen aus dem europäischen, nordamerikanischen und arabischen Raum.

Im Januar 1974 fand ein gelungener Auftakt mit »Wickie und die starken Männer« statt. Der kleine Wikinger führte mit seiner Gewitztheit die eher tumben Kämpfer seines Dorfes durch insgesamt drei Staffeln mit je 26 Folgen, also insgesamt 78 Abenteuer. Im September 1976 nahm dann »Die Biene Maja« ihre Flüge auf, bei denen sie 52 Folgen lang durch ihren Freund Willi begleitet wurde. Dieser Erfolg führte 1979 zu einer weiteren Staffel von ebenfalls 52 Folgen, in denen dann auch die Maus Alexander mitwirkt.



Episode (2) Miller wird aufmerksam

Das Ende der 1. Staffel der Serie »Die Biene Maja« im September 1977 machte den Weg frei für die neue Anime-Serie »Pinocchio« (wiederum 52 Folgen), in denen die bekannte Holzpuppe durch die Welt irrt, um ihren Schöpfer Geppetto wiederzufinden. Gleichzeitig startete die auf die gleiche Episodenanzahl angelegte Serie »Heidi«, in welcher das kleine Naturkind erst die Bergwelt und dann das Frankfurter Häusermeer kennenlernt. Nach Ende dieser beiden Animes im September 1978 trat dann »Sindbad« seine 42 Reisen an.

Hatte man bei Miller »Wickie und die starken Männer« sowie »Die Biene Maja« ungenutzt verstreichen lassen, so wurde doch bald klar, dass das Kinderfernsehen eine Konkurrenz für die Hörspiele zu werden schien. Vor dem Hoheitsgebiet der Fernsehanstalten musste zwar selbst ein Medienriese wie Miller International schulterzuckend die Segel streichen, aber mit an die Serien angelehnten LP- und MC-Produktion konnte man wenigstens im Windschatten der Animes mitsegeln. Denn wie heißt es so schön? »Wenn du deine Feinde nicht besiegen kannst, verbünde dich mit ihnen!«



Episode (3) Was nun?

Nun befanden sich, sei es Zufall oder Ursache, Aufnahmen zu den letztgenannten Serien »Pinocchio«, »Heidi« und »Sindbad« bereits im Repertoire des EUROPA-Labels. Jene Produktionen waren 1969 (»Sindbad«), 1970 (»Pinocchio«) sowie 1970/71 (»Heidi«) entstanden und folgten in der Umsetzung dem klassischen Hörspiel, also einer jeweils kindgerechten, aber im weitesten Sinne noch literarischen Hörfassung, welche sich dicht an der Vorlage orientierte und keinesfalls auf ein Serienformat angelegt worden war.


1969 erschien »Sindbad der Seefahrer und seine abenteuerlichen Reisen« in der Hörspielfassung von Konrad Halver, bei der er auch die Regie übernahm. Die Titelrolle sprach Benno Gellenbeck. Die insgesamt sieben Reisen Sindbads strich Halver auf letztlich vier Abenteuer zusammen, wobei insbesondere die brutalen Momente ausgelassen wurden. Selbst nach diesen Kürzungen verblieb es dennoch bei der relativ langen Spielzeit von über 50 Minuten. Am Ende des Hörspiels berichtet Sindbad dem Kalifen Harun al Raschid seine Abenteuer, und aus den Dialogen geht hervor, dass Sindbad künftig keine Reisen mehr antreten wird.


1970 brachte man die insgesamt etwas blut- und musikarme Version von »Pinocchio« auf den Markt, deren textlastige Fassung sich Hella von der Osten-Sacken anrechnen lassen muss. Auch hier führte Konrad Halver Regie, und er übernahm auch die Hauptrolle, wobei der von ihm gesprochene Text beschleunigt abgespielt wurde. Nach gut 46 Minuten ist die Geschichte auserzählt, und aus Pinocchio ist ein Junge geworden.


Ebenfalls 1970 erschien die Umsetzung der »Heidi«-Bücher, zunächst auf nur zwei Schallplatten. Die Regie führte erneut Konrad Halver, als Heidi war Manuela Dahm zu hören. Nach Auskunft Konrad Halvers hatte die Bearbeiterin der literarischen Vorlage, Mara Schroeder-von Kurmin, ernsthafte Schwierigkeiten, die beiden Romane »Heidis Lehr- und Wanderjahre« und »Heidi kann brauchen was es gelernt hat« auf jeweils 40 Minuten Hörspielformat zu bringen. Und so weigerte sie sich auch, den nach dem Erfolg der Hörspiele geplanten dritten Teil der Reihe »Heidi - Ferien auf der Alm« zu liefern. Konrad Halver übernahm es daher, die zunächst entfallenen Episoden zu einem eigenen Hörspiel zusammenzustellen. Auf diese Weise wurden - wenn auch in etwas veränderter Reihenfolge - die Romane Johanna Spyris abschließend umgesetzt.



Episode (4) Alter Wein in neuen Schläuchen

Bei dieser Sachlage war klar, dass man die im Bestand vorhandenen Hörspiele, die zwar die gleichen Geschichten wie die erfolgreichen Animes erzählten, sich inhaltlich und gestalterisch jedoch völlig anders präsentierten, nicht ohne Weiteres ins Rennen schicken konnte. Es mussten Neuauflagen her, die bei den kleinen Hörern und deren kaufbereiten Verwandten zumindest den Eindruck erweckten, man habe es in irgendeiner Form mit der Hörspielversion der jeweiligen Fernsehserie zu tun.


Einen etwas halbherzigen Versuch unternahm man circa 1978, als man den bereits erwähnten »Heidi«-Dreiteiler Konrad Halvers mit neuen Coverzeichnungen und dem nahezu originalen Schriftzug der Animeserie auf den Markt brachte. Was man freilich nicht ändern konnte war die Tatsache, dass die Hörspiele in ihrem Stil nun wirklich keine Ableitung der TV-Produktion darstellten und für den Zuhörer, der eine solche erwartete, eher eine Enttäuschung gewesen sein dürften.



Episode (5) Neuproduktionen zum Ersten: Pinocchio

Bezüglich »Pinocchio« hatte man bereits 1977 einen offensiveren Schritt unternommen, die Geschichte um die Holzpuppe konsequent neu eingespielt und die Produktion von 1970 aus dem Katalog gestrichen. Heikedine Körting sorgte für eine dicht am Original bleibende Hörspielbearbeitung und streckte die Erzählung auf insgesamt drei Teile, was angesichts der Vorlage eine vertretbare Entscheidung war. Die Titelrolle übernahm Renate Pichler (auf dem Cover als "R. Pichler" bezeichnet), welche sich bemühte, Pinocchios Stimme den Klang der Vorlage zu geben, nämlich den der Interpretation Helga Anders'.


Ein einziger Blick auf die Cover der dreiteiligen Reihe verriet jedem, dass man hier auf den Zug der Animeserie aufspringen wollte. Die rote Mütze der Hauptfigur, die bewusst comicartig Darstellung der Szenen und vor allem das Aussehen der beiden Bösewichte Kater und Fuchs auf dem Cover des zweiten Teils ließen keinen anderen Schluss zu. Auch musikalisch imitierte man das Erscheinungsbild des Originals und versah einen bereits im EUROPA-Repertoire befindlichen Schlager unter Auslassung des Gesangs mit Celestaklängen, welche ähnlich den Schritten einer Holzpuppe daherkommen.


Inhaltlich gelang der Neuaufguss. Litt die erste Produktion von 1970 unter langen Erzählertexten sowie einem in Stimme und Auftreten mehr als unangenehmen Pinocchio, so lieferte Frau Körtings Version eine deutlich unterhaltsamere und kindgerechtere Fassung. Pinocchios Abenteuer werden relativ quellengetreu erzählt, wenngleich etwas mehr Tempo nicht hätte schaden können. So führte die Veröffentlichung dieser Hörspieltrilogie anlässlich der Fernsehserie doch zu einer Bereicherung des EUROPA-Katalogs.



Episode (6) Neuproduktionen zum Zweiten: Heidi

Nachdem dem Konzept um »Pinocchio« augenscheinlich Erfolg beschieden war (und man sich mit der optischen Imitation der Fernseh-Heidi nebst identischem Titelschriftzug wohl zunächst auf urheberrechtlich dünnes Eis begeben hatte), ging man 1978 in die Vollen: Sechs Teile plus eine Zugabe (»Heidi + Peter - Weiße Weihnachten«) erschienen innerhalb eines Jahres, alle in der Bearbeitung sowie der Regie von Heikedine Körting.


Man verwendete bei dieser Vertonung eine Coverversion des Titelliedes aus der TV-Serie und wies auf dem Frontcover der jeweiligen Aufnahme (Folgen 1, 3 und 5) darauf hin. Allerdings war diese Produktion eine in vielen anderen Bereichen zu weit gehende Offensive und lieferte ein sehr zweifelhaftes Surrogat für die »Heidi«-Produktionen unter Konrad Halver, die natürlich parallel zu dieser Veröffentlichung aus dem Katalog verschwanden. Die gröbsten Schnitzer sollen hier kurz beleuchtet werden:


Kritik gefallen lassen muss sich in erster Linie die Bearbeitung, deren Ziel nun eindeutig darin bestand, um jeden Preis eine Serie aus dem Stoff zu machen. Endlose sich wiederholende Beschreibungen relativ überschaubarer Situationen durch den Erzähler (Peter Kirchberger) dürften selbst den motiviertesten Zuhörer irgendwann gelangweilt haben. Der Schluss der Hörspiele im Sinne von »... aber davon erzählen wir in der nächsten Geschichte!« war natürlich ebenfalls ein deutlicher Fingerzeig in Richtung Fernsehserie.


Parallel dazu wird man auch nicht müde, Heidis Eindrücke von der Schweizer Bergwelt immer und immer wieder aufzubereiten: Da werden Ziegen begleitet, Ziegen gemolken, Blumen gepflückt, die Berge beobachtet, der Himmel bewundert, das gute Essen des Großvaters gelobt und schließlich selig unter dem Sternenhimmel eingeschlafen, um am nächsten Tag wieder Ziegen zu begleiten, Ziegen zu melken und so weiter und so weiter. Den fast schon unverschämten Höhepunkt stellt hier Folge (6) dar, die man in einem Satz zusammenfassen kann: Klara ist zu Besuch.


Ein weiteres Manko ist die Hauptdarstellerin Madeleine Stolze. Fraglos verdankt ihr die deutsche Fernsehszene eine Fülle an gelungener Synchronisation, aber die Heidi dieses Siebenteilers ist eine einzige Katastrophe. Es ist wohl einer Regieanweisung geschuldet, Heidi wie eine Achtjährige klingen lassen zu wollen - was letztlich zu einer hörbar verstellten Stimme der zum Aufnahmezeitpunkt bereits 15jährigen Sprecherin führt, deren gewollte und piepsige Kindlichkeit bereits am Ende der ersten LP-Seite ein Sirren in den Ohren hinterlässt.


Und auch die graphische Gestaltung ist in meinen Augen hart an der Grenze des Vertretbaren. Klar, im Ergebnis wollte man eine erkennbare Nähe zur Fernsehserie, ohne andererseits eine Urheberrechtsverletzung zu riskieren. Aber herausgekommen sind dabei erschreckend einfache Zeichnungen der handelnden Figuren, die selbst einem Kind nicht gefallen dürften. Man betrachte nur das Cover der zweiten Folge, welches für mich einen ebenso erschreckenden wie symbolischen Tiefpunkt der »Heidi«-Reihe von 1978 darstellt.


Aus inhaltlicher Sicht empfiehlt sich nur die Zugabe dieser Reihe: »Heidi + Peter - Weiße Weihnachten«. Diese Geschichte hat mit den »Heidi«-Romanen nichts zu tun, sondern wurde von Heikedine Körting aus einer Erzählung Adalbert Stifters entwickelt, nämlich der Kurzgeschichte »Bergkristall«. Aus den sich in den Bergen verirrenden Kindern machte die Bearbeiterin kurzerhand Heidi und Peter. Offensichtlich wollte man im Rahmen der Heidi-Zweitverwertung auch das Weihnachtsgeschäft noch nutzen und schloss die Reihe mit einem »Weihnachtsmärchen« ab - zugegeben ein stimmungsvoller und versöhnlicher Abschluss der sonst viel zu kommerzgesteuerten Produktion.



Episode (7) Neuproduktionen zum Dritten: Sindbad

Möglicherweise hatte man aus der überbordenden »Heidi«-Produktion seine Schlüsse gezogen und ging 1978 etwas behutsamer an die Vertonung des »Sindbad«-Stoffes, die ihrerseits die alte Produktion von 1969 aus dem Katalog verdrängte. Die Bearbeitung der Geschichte aus »1001 Nacht« übernahm wiederum Heikedine Körting. Die Titelrolle besetzte man mit dem gerade zum EUROPA-Label gestoßenen Oliver Rohrbeck.


Die Umsetzung stellt einen leichten Spagat zwischen der altertümlichen Vorlage und dem Konzept der Animeserie dar. Der Erzählung aus »1001 Nacht« folgte man insoweit, als dass Sindbad nur einige wenige Abenteuer während des Hörspielvierteilers erlebt und nicht - wie im Laufe der 42 Zeichentrickfolgen - ständig in die Machtkämpfe verschiedener Dschinns verwickelt wird. Als Vorgabe aus dem Fernsehen übernahm man, dass Sindbad seine Abenteuer bereits im Kindesalter bestreitet und ihm dabei ein etwas naiver Spielkamerad zur Seite steht (im Hörspiel: Hussein, in der Animeserie: Hassan).


So steht die Länge des Vierteilers, dessen einzelne Folgen meist nur gerade 30 Minuten dauern, in einem sehr viel gesünderen Verhältnis zu den Ereignissen der Vorlage als bei »Heidi«, was dem Hörvergnügen guttut. Jedenfalls bietet diese Aufnahme einen recht individuellen, aber nicht zu leugnenden Charme, den sich neben der Bearbeiterin Heikedine Körting auch der Interpret des Titelhelden zurechnen lassen kann.


Durch die Anlage zum wirklichen Kindermärchen erhält die Erzählung um den kernigen Seefahrer allerdings einen gänzlich anderen Charakter als der Vorgänger von 1969. Insofern stellt die Neueinspielung eine echte Alternative dar, denn sie steht in meinen Augen als ganz eigene Interpretation neben der Halver'schen Produktion, aber dies war natürlich auch das Ziel: die akustische Annährung an den Zeichentrick-Sindbad aus Fernost.



Episode (8) Epilog

Die ersten Trittbrettfahrten im Fahrwasser eines erfolgreichen TV-Kinderprogramms fallen in der Gesamtschau also recht gemischt aus. Lässt es sich mit den etwas weichgespülten Versionen von »Pinocchio« und »Sindbad« durchaus leben, so fällt die bis auf den letzten Tropfen an Verwertbarkeit gemolkene »Heidi«-Fassung weitgehend durch.

Ohnehin begann bei EUROPA ab 1977 die Entwicklung des Hörspielprogramms hin zur Serie. Dies betraf nicht nur TV-Ableitungen des Kinderprogramms, sondern auch das Jugendprogramm, welches fortan kaum noch einzelne Abenteuerhörspiele aufwies. Waren früher Ben Hur, d'Artagnan und Kapitän Ahab in den Kinderzimmern ständige Gäste, so wurden dies ab 1978 Julian, Stubs, Bob, Trixie und Klößchen - wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Ich für meinen Teil greife jedoch immer noch gern zu den alten und vielleicht etwas angestaubten, aber dramaturgisch und künstlerisch etwas ausgewogeneren Ersteinspielungen unter dem EUROPA-Label, vor allem Konrad Halvers »Sindbad«.



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